Aus zwei Sommerurlauben an der Alabasterküste in der östlichen Normandie blieb mir eine große Sympathie für die Region, ihre stillen Dörfer, imposanten Felsen und farbenfroh schillernden Meereswogen. Und Sehnsucht nahm ich mit, sofort mit der Abreise. Nach dem Ende unseres Aufenthalts im letzten August stand deswegen die Frage, ob die Normandie auch für eine Auszeit im Winter geeignet sein könnte, plötzlich im Raum. Wie soll man das wissen, wenn man es nicht ausprobiert?

Ich buchte recht früh ein Häuschen in einem winzigen Dorf in der Nähe von Étretat, ich war immer mal zwischendurch nicht sicher, ob das wirklich die richtige Entscheidung sei. (Warum nicht doch lieber nach Wien, wo ein neues Jahr im Walzerrhythmus die Straßen erobert??)
Kurz vor der Reise nach Nordwest statt nach Südost ereilten uns dann Mitteilungen über orkanartige Böen, die zum Jahreswechsel dort droben am Ärmelkanal erwartet würden. Würde die Normandie-Liebe den Witterungsbedingungen trotzen können?

Der Stopp auf der Hinfahrt : Lille, die Hauptstadt Flanderns

Unsere Fahrten in die Normandie waren bisher immer mit einem Zwischenstopp verbunden. Beim ersten Mal hieß die Station Brügge, im letzten Sommer übernachteten wir zwei Nächte im Schloss (!) in der Nähe von Brüssel, um von dort die belgische Hauptstadt zu erkunden und dieses Mal legten wir eine Stippvisite in Lille ein.

Nicht mehr in Belgien, sondern direkt hinter der Grenze bereits in Frankreich gelegen, gilt die Stadt seit dem Mittelalter als Hauptstadt Flanderns. Indirekt ist sie sehr, sehr französisch – denn hier wurde Charles de Gaulle geboren.

Tatsächlich wirkt Lille rund um den Grand Place aber wiederum Brüssel sehr ähnlich – soweit wir das erkennen können. Es ist eben Winter, die kürzesten Tage des Jahres bescheren uns die einsetzende Abenddämmerung, als wir unsere Wohnung bezogen haben und die Straßen betreten. Und es regnet viel, es windet, es glänzt und glitzert aber auch. Noch kurz vor Silvester ist Lille ungeheuer weihnachtlich dekoriert, und die Karussells und Marktbuden, umringt von prächtigen Art-Déco-Fassaden, lassen alles ausgesprochen festlich wirken. Die Stadt wirkt wohlhabend, zumindest in diesem Ambiente, ob sie eine intensive Aufhübschung erfuhr, bevor sie 2004 Kulturhauptstadt Europas war, ob es alles ein Schein des Moments ist – wir wissen es nicht.

Wir nehmen, wie es sich gehört, unseren ersten Pastis in einer Bar, während es draußen ordentlich weiterregnet und dann auf zum Glück im Vorfeld reservierten Plätzen in der Brasserie de la Paix Platz. Hier füllt es sich schnell. An Nachbartischen werden Hummer flambiert und mit Meeresfrüchten überladene Platten serviert, wir grooven uns da erst Mal ein mit einem kleinen Menü. Und wissen natürlich nach diesem Abend, dass wir viel zu wenig von Lille gesehen haben, wiederkommen müssen, aber das sagen wir ja oft.  



Besonders stürmisch: In Fécamp wird das alte Jahr weggefegt

Wer immer es angekündigt hat, sie haben alle Recht… es ist ganz schön windig an der Küste zu Silvester, aber wir haben ein herziges Häuschen aus Stein – das vielleicht mal eine Scheune war -, wir haben eingekauft und wir treffen Fécamp am 31. Dezember zunächst sogar im Sonnenlicht an.


Étretat wäre näher gewesen, aber in Fécamp muss sich niemand um einen überteuerten Parkplatz prügeln. Und: Wir haben die Stadt, die eine Fischer- und Industriestadt war und nie eine  Glamourstadt geworden ist, bei jedem unserer Aufenthalte besucht, kennen uns ein bisschen aus und steuern also gleich den Strand an.


La Plage ist ganz verändert, an der Promenade sind natürlich alle Buden verschwunden, in denen an Sommerabenden Unmengen von Muscheln gegessen werden, die Möwen, die sonst hungrig oder majestätisch ihre Köpfe recken, kreischen völlig erregt aus tiefster Kehle heute den Wind an, und plötzlich wirkt alles grau, stürmisch und wild und ein bisschen aufregend am Kieselstrand. Als der Regen einsetzt, sind wir auf dem Weg zum Auto und werden so dermaßen nass, durch und durch, dass ich später lange brauche unter einer karierten Bettdecke im heimeligen Häuschen wieder vollends aufzutauen.

Aber so musste es sein, glaube ich, so sollte der letzte Tag des Jahres sein und das Neue erstürmt werden.

Neujahrsgrüße vom Cap d’Antifer

Der Jahreswechsel selbst ist der ruhigste, den ich, seit ich denken kann, erlebt habe. Eine halbe Stunde vor Mitternacht hat sich sogar die blinkende Beleuchtung der Kirche gegenüber verabschiedet. Kein Feuerwerkskörper, nirgends, keine Stimmen, keine Autos, kein Glitzer. Tiefe Stille im kleinen Ort La Poterie.

Wir haben am Abend Jakobsmuscheln gegessen in UriBuris Créme fraiche Sauce, ich wollte das so, weil man in der Normandie Jakobsmuscheln essen muss. Dabei haben wir nirgends, wirklich nirgends frische bekommen, was ich mir aber ganz unbedingt so vorgestellt hatte. Artischockenböden mit Krabbenmousse und gefüllte Wachteln gab´s auch noch. Und Crèmant zum Anstoßen, bien sur.

Allen Ernstes schauen wir uns zur Ereignis-Vergewisserung im TV den mit großem Pomp illuminierten Arc de Triomphe an, gemeinsam mit der Menschenmenge in der Hauptstadt, die nicht nur schnöde auf ein neues Jahr, sondern auch gleich noch auf d a s Jahr der Olympiade 2024 in Paris eingestimmt wird.

Unser Neujahrsspaziergang führt uns zum Leuchtturm ans Cap, die anhaltenden Böen machen wieder frisch und wach, so ist es am Meer im Norden, es ist gut.

Neues Jahr, neue Stadt: Rouen

Größere Städte sind (in der Regel erfreulicherweise) mit dem Auto fast uneinnehmbar, zumindest, wenn man die Städte nicht kennt und vor allem, wenn man den Besuch stressfrei gestalten will. Also sollte uns SNCF vom Bahnhof Bréaute-Beuzeville nach Rouen bringen. Der Doppelnamen des Bahnhof-Standorts wird von den zwei Städten gebildet, in deren Mitte er liegt und damit also im sprichwörtlichen Nirgendwo. Das wird sich bei unserem ersten Versuch, eine Zugreise nach Rouen zu unternehmen, gleich als großer Nachteil rausstellen.

Weil der Zug nicht kommt, irgendetwas ist in Le Havre technisch kollabiert. Die Verspätungs-Ankündigungen werden im 10-Minuten-Takt verlängert (ein Gruß geht raus an die Deutsche Bahn: Ihr seid nicht allein so…), nach über 70 Minuten lassen wir uns unser Geld zurückgeben und geben für heute auf.

An diesem Tag haben wir uns nicht wenigstens am Meer, sondern hauptsächlich auf einem unwirtlichen Bahnsteig unsere ordentliche Portion Wind abgeholt, es war schon eher unbefriedigend. Danach schleichen wir uns aber mit dem Automobil durchs Ländliche und finden in Bolbec eine dieser kleinen “typisch” französischen Städte, bei denen zumindest frankophilen Fremden wie uns stets das Herz aufgeht.

Beim nächsten Versuch, zwei Tage später, erreichen wir Rouen pünktlich auf die Minute und kommen im ansehnlichen Art-Déco-Bahnhof an. Wir spazieren am architektonisch erst Recht eindrucksvollen Métropole vorbei und durchstreifen sodann, auf Sehenswürdigkeiten wenig genau vorbereitet, am Atmosphärischen aber interessiert und schnell davon auch fasziniert, durch die Straßen der Stadt. Nach dem Bahnhofsviertel mit seiner Art-Déco-Imposanz landen wir plötzlich zwischen Fachwerkhäusern – finden Straßenbilder, die ans Elsass erinnern.

Rouen ist kulturell mit (mindestens) drei großen Namen verbunden: Jeanne d’Arc, die hier auf dem Marktplatz hingerichtet wurde und alsbald in Frankreich und weit darüber hinaus als Heroine der Freiheit verehrt wurde. Noch heute versucht das Marketing die blutige Geschichte durch glühende Preisung zu überdecken. Rouen ist aber auch die Geburtsstadt von Gustave Flaubert, an den Denkmal und Museum erinnern und die Stadt, in der Simone de Beauvoir einige Jahre als Lehrerin lebte und sich im bereits erwähnten Café Métropole mit Jean-Paul-Sartre traf (der wiederum in dieser Zeit die Gymnasiasten in Le Havre mit Philosophie bekannt machen sollte).

An der wirklich gigantischen Gotischen Kathedrale Notre-Dame vorbei bahnen wir uns den Weg zum Restaurant „Simone“, das nicht nur eine erfreuliche Reminiszenz an die Schriftstellerin im Namen trägt, sondern auch mit hervorragender Küche lockt. Es gibt ein einziges Menü zum Mittag mit kleinen Auswahlmöglichkeiten, aber das ist beeindruckend und angenehm bezahlbar. Wir sind ein bisschen verzückt, wie von Rouen überhaupt.

Unser Rückweg zum Bahnhof führt durch die Altstadt, an der ebenfalls prächtig verzierten Kirche Saint-Maclou und am Jeanne d’Arc-Museum vorbei. Ein Überblicks-Tag in Rouen war das, wir sind noch mehr als in Lille sicher, wir müssen wiederkommen, länger. Der Besuch von zwölf Museen in Rouen ist kostenlos, keines davon haben wir bisher betreten. Es gehört sogar das Musée des Beaux Arts dazu und das bereits genannte Flaubert-Museum.



Rouen wird vorerst nicht werden, was Lille schon war, denn es schied im Wettbewerb der letzten vier französischen Bewerber um die Nominierung als Kulturhauptstadt für 2028 aus. Ein bisschen erstaunlich, doch vielleicht besser für die Stadt, wenn man den Protest-Slogans an manchem Bretterzaun vertraut.

Die letztendliche Siegerstadt Bourges sagt mir bisher so gut wie gar nichts. (Je dois faire des recherches…)

Revisited und neu entdeckt: Yport und Saint-Pierre-en-Port

Diese beiden Orte an der Alabasterküste tragen den Hafen schon gleich im Namen und waren Fischerdörfer, die sich zu Urlaubsorten gemausert haben. Beide sind umrahmt von den typischen Felsen des Küstenabschnitts. Dass hier Maler magisch angezogen wurden, verwundert überhaupt nicht.
Gerade die Felsen in Saint-Pierre-en-Port sehen selbst schon fast aus wie gemalt, das griesgrämigste Wetter vermag dem keinen Abbruch zu tun. Interessanterweise ist Saint-Pierre-en-Port eher unbekannt zwischen den öfter genannten Orten, besticht aber in dieser Zeit durch eine verwunschene Schönheit.

Im kleinen Seebad Yport waren wir bei jedem unserer drei Aufenthalte, das Wiedererkennen fällt nicht schwer, auch wenn jetzt im Winter kein Boule gespielt wird, die Buden zugesperrt sind und überhaupt der Ort ein wenig verlassen wirkt. Auch das niedliche, kleine Restaurant La Falaise ist geschlossen, in dem wir mal sehr angenehm an einem Sommerabend aßen. Und selbst das große, im Ortsbild ganz auffällige Hotel Normand schläft vor sich hin. In einem Auto vor der Strandpromende sitzt ein Mann, schaut nur hin und wieder auf die Gischt und löst dabei ein Kreuzworträtsel. Auch das ist die Normandie im Winter.

Und dann kam der Regenbogen

Zum Schluss dann doch: Beruhigung, Aufklarung, großartige Himmel. Ohne Wind scheint es zehn Grad wärmer zu sein – was auf dem Thermometer überhaupt nicht der Fall ist.


Aber farbenprächtig strahlt die Landschaft auf einem letzten Spaziergang zum Cap, das liegt nicht nur am Regenbogen. Es ist klar, dass ein Abschied in dieser Stimmung auch wieder nicht melancholiefrei ist und reichlich Sehnsucht bis zum nächsten Aufenthalt gebiert.

Als Winterreiseziel hat sich die Normandie jedenfalls qualifiziert.